Predigt: Hosianna im Tempel (Matthäus 21, 14-17) 2. Mai 1999 – Kantate

excited woman screaming and looking at camera

Mt 21

Tonstörung im Heiligtum: Mal quegeln kleine Kinder in der Kirche, mal sind es seltsame Zeitgenossen, mit denen wir es nicht so einfach haben.
Und doch hat Jesus gesagt: Es muss Platz für alle sein.

Liebe Gemeinde

Es ist Sonntag, in einer Landgemeinde keine 20km von hier. Die schmucke Kirche, sie hat sogar einen tollen Markgrafenaltar, ist ganz gut gefüllt. In der aller-ersten Reihe sitzt der Pfarrer. Und, einige Stühle seitlich von ihm noch jemand. Ein Mann um die 50. Klein, in sich zusammengesunken, zugleich irgendwie unruhig. Nein, der Meßner ist es nicht. Ein komischer Typ, wohl auch etwas verwahrlost, zumindest unrasiert.
An diesem Tag singt ein Jugendchor im Gottesdienst. Da wird der Mann lebendig: Er klatscht bei den Liedern mit, als einziger, und er schunkelt dazu: hin und her: Der Spaß daran ist ihm deutlich anzumerken.

Später bei der Predigt, ich weiß gar nicht mehr, was der Pfarrer grade gesagt hat, erntet er plötzlich Zustimmung aus der Gemeinde: Der kleine Mann ist aufgestanden, gestikuliert heftig und ruft zum Pfarrer hoch: „Jawoll, recht hast! Des muß amol gsacht wern“.

Ich zucke zusammen: was kommt jetzt? Chaos im Gottesdienst? Einer von den Leuten in den vorderen Reihen zischelt nach vorne: „Ja, Gerch, ist scho´gut, Etz hock dich wieder hin!“ Der Ruhestörer blickt mit glücklichem Gesicht in die Gemeinde, wartet einige Sekunden, und setzt sich wieder hin. Der Pfarrer predigt weiter, der Mann bleibt für den Rest des Gottesdienstes ruhig. Bloß ich nicht, denn mir geht nur ein Gedanke im Kopf herum: „Hoffentlich passiert mir sowas mal nicht…“
Später hab ich nachgefragt und erfahren: Das war nicht das erste Mal. Der Herr ist Alkoholiker, auch sonst etwas seltsam, kommt aber immer wieder mal zu kirchlichen Verantaltungen. Da fühlt er sich anscheinend wohl.

Tonstörung in der Kirche – die haben wir, wenn etwas passiert, womit keiner rechnet. Wenn die Andacht gestört wird. Wenn wir meinen: „Das gehört nicht hierher“

Von so einer Tonstörung berichtet auch der Evangelist Matthäus im 21 Kapitel:
Und es gingen Blinde und Lahme zu Jesus in den Tempel, und er heilte sie.
Als aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten die Wunder sahen, die er tat, und die Kinder, die im Tempel schrien: Hosianna dem Sohn Davids!, entrüsteten sie sich und sprachen zu ihm:
Hörst du auch, was diese sagen? Jesus antwortete  ihnen: Ja! Habt ihr nie gelesen: »Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dir Lob bereitet«?
Und er ließ sie stehen und ging zur Stadt hinaus nach Betanien und blieb dort über Nacht.
Liebe Gemeinde:
Jesus, der Störenfried. Gerade hatte er die Geldwechsler und Tierhändler aus dem Vorhof des Tempels vertrieben, da holt er ganz andere Typen in den Tempel, in das Heiligtum Israels herein: Blinde und Lahme! „Randsiedler“ der damaligen Gesellschaft. Leute, die man dort nicht haben wollte. Ja, es war sogar verboten, Behinderte in den Tempelbereich zu bringen.
Die gehören nicht hierhin. In den Bereich des Heiligen, wo alles seine Ordnung hat, wo jeder Handschlag durch ein Ritual bestimmt ist, wo alles ungewohnte, alles „unnormale“ stört.

Jesus bittet sie herein: Die Blinden und Lahmen. Die Ungewaschenen und Unrasierten, solche, die nicht nach Myrrhe und Weihrauch duften. Jesus bringt sie zusammen mit dem Heiligen. Seine Botschaft lautet: Gott kommt nicht „auch“ zu euch, sondern „vor allem“ zu euch!
Das Evangelium wendet sich an alle, die nicht „heil“ sind. Ihnen soll gesagt werden: Gott ist mit euch. Und deshalb sollen sie dorthin kommen, wo Gott in besonderer Weise erlebbar wird: In den Tempel.
Und dort geschieht dann wunder-bares: Sie werden geheilt. Gottes Liebe zu den Menschen führt hier zur Heilung ihrer Gebrechen.

Das ist jenseits dessen, was geplant, was zu erwarten war. Das bringt die ins Schleudern, die immer hier sind, die die Ruhe, die Ordnung schätzen. Für sie ist das eine Bildstörung  im Tempel.

Es gibt noch eine weitere Gruppe im Tempel: Die Kinder. Sie dürfen da sein, wenn sie sich ordentlich aufführen, nicht ausflippen. Aber sie flippen aus! Sie kennen diesen Jesus. Sie haben gesehen, wie er vor wenigen Tagen auf einem Esel in Jerusalem eingezogen ist: „Hosianna, dem Sohn Davids“ haben die Leute gerufen. „Du bist unser Retter, mit dir verändert sich die Welt“. Das haben die Kleinen noch im Ohr, das hat ihnen gefallen: Die Erwachsenen waren auch mal ausgeflippt. Papa hatte sogar Palmzweige abgerissen und vor diesem Jesus auf den Weg gelegt. Und nun sehen sie, daß sich die Welt verändert: Lahme und Blinde werden geheilt: Und sie fangen zu rufen an: „Hosianna, dem Sohn Davids“. Das macht ihnen Spaß. Sie fragen nicht, ob es zur Situation paßt, ob es theologisch wirklich richtig ist. Sie rufen und singen. Die Freude über das, was sie da sehen muß heraus: Sie rufen, jubeln, singen, kreischen.

Für die Statthalter der Ordnung im Tempel ist das eine Tonstörung.  Die muß abgestellt werden. Darum wenden sie sich an Jesus:  Hörst du auch, was diese sagen?  Und er antwortet: „Ja, natürlich, aber die dürfen das! Das ist deren Form des Gotteslobs. Nicht nur eure wohlgesetzten Gesänge erfreuen unseren Gott. Schaut in den Psalmen nach: »Aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dir Lob bereitet«. Das Kreischen der Babys, das Geträller der Kinder ist auch ein Lied in Gottes Ohren.“
Mehr sagt Jesus nicht. Er geht weg. Läßt die Ordnungshüter zurück mit ihren Forderungen nach Ruhe und Ordnung.
Tonstörung im Heiligtum. Das gibts auch bei uns. Denn für viele Menschen ist der Gottesdienst etwas „heiliges“. Es ist die Feier, bei der ich Gottes Nähe spüren will, und hoffentlich auch spüren kann. Gott ist mir am Sonntag früh im MLH nicht näher als am Montag abend im Wohnzimmer. Aber die Atmosphäre, die Gemeinschaft mit anderen Christen, die Lieder lassen mich die Nähe Gottes ganz besonders erleben. Darum kann der Gottesdienst etwas heiliges sein.
Wenn mir so eine Atmosphäre gefällt, ich sie schätze und liebe, dann möchte ich sie verständlicherweise auch ungestört erleben. Das ist irgendwie logisch. Ein Ablauf des Gottesdienstes, bei dem ich weiß, was wann kommt, läßt mich entspannter zur Ruhe kommen.
Dann ist es wirklich eine Tonstörung in meinem Heiligtum, wenn das Kleinkind neben mir endlos quengelt oder ein etwas seltsamer Zeitgenosse in die Predigt reinplazt und seinen Kommentar abgibt. Das kann mich nerven, kann mich meine ganze Andacht kosten. Da könnte ich vielleicht fast so giftig reagieren, wie die Schriftgelehrten im Tempel, die Jesus anfahren.

Aber Vorsicht, es könnte passieren, daß Jesus mich zurückfragt:  „Alexander, warum sitzt du hier eigentlich? Wegen meines Evangeliums, gell? Und das gilt nur denen, die angepaßt ohne zu Mucksen eine Stunde lang still sitzen können? “ Nein.
Das heißt: Wenn wir Kirche Jesu Christi sein wollen, dann müssen wir unsere Türen weit aufmachen für genau die Menschen, die stören, die nicht so pflegeleicht sind.  Denn gerade diese sind doch von Jesus angeprochen. „Nicht die Gesunden brauchen einen Arzt, sondern die Kranken“ hat Jesus einmal klargestellt.

Uns kann es nicht darum gehen einen möglichst reibungslosen religiösen Betrieb aufrechtzuerhalten. Eine Heilsanstalt mit Pförtner, der aussiebt, wer nicht rein darf; wer nicht kompatibel ist. Sie habens wohl schon gemerkt: Es geht hier nicht mehr um quengelige Kinder am Sonntagmorgen. Denn die sind im Kindergottesdienst besser aufgehoben als hier. Dabei sollten wir auch dran denken, daß der Kindergottesdienst nicht als Entsorgungsstation für Kleinkinder mißverstanden werden sollte.

Interessant wird es dort, wo wir die Türen unser Jugendgruppen, Hauskreise und Chöre aufmachen für die Sorgenkinder:
Für Nervensägen, Besserwisser und Dauerquassler,
für Kettenraucher, Haschisch-Schnüffler, und notorische Linksfahrer,
für neurotische Hausfrauen, prügelnde Ehemänner und pubertierende Halbstarke.
Die lädt Jesus ein. Denen will er von der freimachenden Liebe Gottes erzählen. Und wir haben vielleicht gedacht, das mit den Zöllnern und Sündern hätte sich erledigt.

Jesus lädt alle ein. Das hat die Schriftgelehrten entsetzt und ist für uns eine Herausforderung. Ich habe keine Angst, daß unsere Gemeinde mit Störenfrieden aller Art förmlich überschwemmt wird. Ich möchte Ihnen vielmehr Mut machen, offen zu sein für problematische Mitmenschen, ihnen zu signalisieren: „Du bist bei uns richtig.“
Um Geduld möchte ich werben, wenn es deshalb in unseren Gottesdiensten deshalb zu einer Tonstörung kommt.  Vielleicht hilft es Ihnen, wenn sie sich daran erinnern: Es war Jesu heilendes Handeln, das damals im Tempel für die große Tonstörung gesorgt hat.
Amen.

Speichere in deinen Favoriten diesen permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.