Predigt: Wenn die Zukunft die Gegenwart erhellt (Jesaja 35, 3-10) 10. Dezember 2000, 2. Advent

Liebe Gemeinde,
unser Predigttext steht beim Propheten Jesaja, im 35. Kapitel.
Ich möchte ihnen diesenText nicht einfach so vorlesen. Ich möchte ihn in eine Geschichte hineinstellen. Damit er dort zu Wort kommt, wo er ursprünglich gehört worden ist: Vor über zweieinhalb tausend Jahren in Israel. Von Miriam und ihrer Mutter Rahel möchte ich Ihnen erzählen:

Die Sonne war gerade untergegangen, als Miriam vom Feld zurückkam. Zurück zu den nicht einmal mannshohen Hütten an Ortsrand von Jericho. Dutzende von solchen Behausungen standen hier. Aus Lehm, ohne Fenster, mit einer hüfthohen Türluke. Meist hing ein altes Tuch vor diesem Eingängen.
Miriam näherte sich den Hütten mit schweren Schritten. Sie wusste selbst nicht, ob es die Wut, die Verzweiflung oder die Erschöpfung war, die sie so müde machte. Die Hälfte ihres Hirsefeldes hatte jemand niedergetrampelt. Menschen? Tiere? Sie wusste es nicht. Mit ihren kleinen Händen hatte sie versucht, die Halme wieder aufzurichten – vergeblich. Immer wieder sind sie umgefallen. So stolz war sie gewesen, dass sie dem dürren Boden einige Früchte entlocken konnte – sie das zwölfjährige Mädchen, und ihre Mutter. – Es war einfach umsonst.
Wahrscheinlich wird ihre Mutter wieder betteln gehen müssen, wie so viele Witwen in ihrer Stadt.

Miriam ging auf das Haus ihrer Mutter zu, kroch unter der Tür hindurch und setzte sich mit den Rücken an die Lehmwand auf den Boden. Zog ihre müden Beine an den Körper und umschloss sie mit den Armen. – Ihr war kalt.
Rahel sah ihre Tochter an, ohne ein Wort. Sie konnte in ihren Augen lesen. Sie rutschte an ihre Seite und legte eine Hand auf ihre Schulter:
„Miriam, ich weiß auch nicht, warum vieles so schlimm ist. Aber vielleicht wird es auch einmal wieder besser…“
Miriam hörte nicht hin, was ihre Mutter sagte. Sie wollte sich nicht trösten lassen – nicht jetzt.

Nach einer langen Stille rutschte ihre Mutter in die andere Ecke der Hütte, wurde von der Dunkelheit verschluckt, die sich breitgemacht hatte. Es raschelte, ein Funke: Dann sah sie das Gesicht ihrer Mutter wieder – im Schein der Öllampe. Sie kam zurück mit der Papyrusrolle. Einem der wenigen Gegenstände die ihre Mutter selbst in der bittersten Not niemals verkauft hatte. Sie suchte offenbar eine bestimmte Stelle in dieser Rolle, Miriam nahm die Lampe in die Hand, damit ihre Mutter mit beiden Händen das empfindliche Papyrus entrollen konnte.
Da ist es, sagte sie mit gespannter Stimme: Mein Schatz, höre dir das an, was der Prophet Jesaja schreibt:
Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie!
Saget den verzagten Herzen: »Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen.«
Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden.
Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande.
Und wo es zuvor trocken gewesen ist, sollen Teiche stehen, und wo es dürre gewesen ist, sollen Brunnquellen sein. Wo zuvor die Schakale gelegen haben, soll Gras und Rohr und Schilf stehen. Und es wird dort eine Bahn sein, die der heilige Weg heißen wird. Kein Unreiner darf ihn betreten; nur sie werden auf ihm gehen; auch die Toren dürfen nicht darauf umherirren.
Es wird da kein Löwe sein und kein reißendes Tier darauf gehen; sie sind dort nicht zu finden, sondern die Erlösten werden dort gehen.
Die Erlösten des HERRN werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen.

Mutter und Tochter blieben noch lange so sitzen. Ohne ein Wort. Das, was vor ihren Augen da entstand, wollten sie nicht verscheuchen. Eine Wirklichkeit hatte sich in ihrer Hütte ausgebreitet, die wärmte sie trotz der Kälte. Die ließ es hell werden, obwohl da nur eine kleine Öllampe flackerte.

—Musik —

Liebe Gemeinde,
in der Hütte von Rahel und ihrer Tochter Miriam wurde es für einige Minuten hell und warm. Weil ein Licht aus der Zukunft in ihre Behausung hineinschien. Die Hoffnung auf etwas, das sie noch nicht sehen konnten, auch nicht erahnen konnten, hat ihre Wirklichkeit verändert.
Die Verheißung aus dem Buch Jesaja passt eigentlich gar nicht zu dem Leben der Frau und des Mädchens in der Hütte. Das, was die Mutter Rahel ihrer Tochter da vorgelesen hat war doch eigentlich eine reine Vision – eigentlich nicht erreichbar, nicht machbar. Das alles erschien doch ganz unwahrscheinlich, und hat dennoch den beiden neue Hoffnung, neue Kraft gegeben.

Vielleicht deshalb, weil sie die alten Geschichten kannten, den Weg Gottes mit seinem Volk.
Vielleicht dachte Mutter Rahel an die Erzählung von Abraham und Sara. Denen hatte Gott im hohen, unfruchtbaren Alter eine große Nachkommenschaft verheißen. Und wahrscheinlich hätte sie wie Sara darüber nur gelacht, wenn sie nicht genau gewusst hätte, dass sie selbst zu dieser für unmöglich gehaltenen Nachkommenschaft gehörte; die den weiten Landstrich zwischen dem Roten Meer und den Libanon bevölkert.
Vielleicht fühlte sich die junge Miriam an den kleinen Schafhirten David erinnert, dem ein Prophet verheißen hat, König zu werden. Und sie hätte ihn, so wie seine großen Brüder, nie ernst genommen. „Du mal König? unmöglich“. Aber Miriam kannte die Geschichte ihres Volkes, und wusste, dass dieser David der bedeutendsten König Israels der letzten 1000 Jahre war.
! Die Erinnerung an erfüllte Versprechen Gottes lässt das Vertrauen in die künftigen Verheißungen wachsen.

Liebe Gemeinde,
das ist der Unterschied zwischen menschlichen Visionen und Verheißungen Gottes. Visionen, die Menschen haben, gab und gibt es viele. Sie malen die Zukunft in tollen Farben und mit viel Phantasie aus. Der globale Friede, der Sieg der Medizin über alle Krankheiten bis zur Besiedlung fremder Planeten. In den letzten Jahren hat – so ist mein Eindruck – dieser Fortschritts-Optimismus nachgelassen. So mancher Fort-Schritt hat sich als Fehl-Tritt entpuppt. Wir Menschen machen nach wie vor Fehler.
Visionen sind nichts schlechtes, sind ein Motor für menschliches Arbeiten. Aber sich darauf verlassen? Sein Leben darauf gründen?

Anders halte ich es mit Verheißungen. Zum Beispiel der Verheißung aus dem Predigttext. Sie malt mir auch eine wundervolle Zukunft vor Augen. Wie bei den Visionen auch. Mit einem Unterschied: Nicht wir sollen das schaffen. Die Verheißung beschreibt, was Gott mit uns vor hat.
Viele Verheißungen haben sich erfüllt: Die an Abraham und Sara, die an David. Aber die ganz große Verheißung ist noch auf dem Weg. Und von dieser großen Verheißung spricht Jesaja hier:
– von Wüsten, die zu Leben erwachen
– Von Menschen, die ihre Krankheiten und Behinderungen loswerden: Stumme singen und Lahme laufen herum – Das Elend hat ein Ende: „Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen werden entfliehen.“
– Das was wir „himmlische Zustände“ nennen.

Diese Zukunft Gottes hat einen langen Anmarschweg. Als Christen befinden wir uns aber auf diesem Weg.
Wir haben Advent: Der Name sagt es: Es geht um Ankunft: Um die Ankunft von Jesus Christus. Mit ihm wurde diese alte Verheißung buchstäblich Fleisch und Blut: Er ist der Garant dass sie noch gilt.
Indem er Kranke geheilt, Menschen getröstet und ihnen Gottes Liebe nahegebracht hat, hat er gezeigt: Hier wird das Versprochene jetzt schon Wirklichkeit.
Bis zur endgültigen Erfüllung ist diese Verheißung noch auf dem Weg.
Aber sie kann jetzt schon in unser Leben scheinen; gerade da, wo unser Erleben und Erleiden noch dieser Verheißung noch nicht entspricht.
Wenn wir wie Rahel und Miriam das Licht der Zukunft in unsere Gegenwart hinein scheinen lassen.

Amen

 

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