Predigt: Durch die Jahrhunderte: Sünder und Gerechtfertigte (Römer 3,23 f) 31. Oktober 2010

In diesem Jahr fallen Reformationstag und Gollhöfer Kirchweih zusammen. So gehts zur Kirchweih um eine biblische Kernstelle reformatorischer Theologie.

Szene 1494 – Angst und Ablass

Sommer 1494, erst vor wenigen Monaten war die neue Gollhöfer Kirche eingeweiht worden. Über einige Jahre hinweg hatte man daran gebaut, alle haben mitgeholfen. Besser gesagt: hatben mithelfen müssen, denn die strenge Obrigkeit, der Erbschenk aus Einersheim achtete darauf, dass jeder seine Pflicht an Frondiensten ableistete. Sonntags sitzen sie dicht gedrängt auf den rohen Holzbänken. Es ist kalt, vorn im weiten Altarraum steht ein einfacher Tisch mit einem Kreuz. Für mehr hatten die Spenden und Gaben der Gläubigen und des Fürsten nicht gereicht.
Ehrfürchtig folgen sie dem Gottesdienst, auf Latein wird er gehalten. Die meisten verstehen kein Wort, und doch vertrauen sie: Das, was da geschieht, soll sie retten vor dem Zorn Gottes, der mit scharfen Augen jede Schandtat, jede böse Begierde, jeden ungehörigen Gedanken erkennt und bestraft. Hier in der Kirche gibt es Hoffnung, dass Gott nicht ganz so unnachsichtig die Sünden bestraft, dass das Fegefeuer nicht ganz so lange dauern wird, wie es der Priester ihnen androht. Dass man vielleicht doch in den Himmel eingelassen wird.

An diesem Tag hat der Gottesmann eine gute Nachricht, die er nach dem Abschluss des Gottesdienstes auf deutsch bekanntgibt: Liebe Gollhöfer Männer und Frauen, unser allerheiligster Papst Alexander VI hat verfügt: Ab sofort könnt ihr Ablass von euren Sündenstrafen erhalten. Wer an Mariae Empfängnis, St. Katharina, St. Barbara, Ottilia oder an unserer Kirchweih in unsere Kirche kommt, der kann für wenig Geld einen Ablass erhalten, der für 100 Tage von allen Sündenstrafen befreit. Das Geld, das ihr dafür bezahlt, wird unserer Johanniskirche zugute kommen, damit wir sie würdevoll ausstatten können.

1560: Reformation bricht sich Bahn

Mehr als ein halbes Jahrhundert später: Die Reformation hat auch in Gollhofen Fuß gefasst Die Kirche, ist die gleiche, die Bibel auf dem Altar auch, der Gott, zu dem sie beten ebenso. Aber doch ist manches anders geworden. Der Pfarrer trägt nicht mehr den prächtigen Chorrock wie seine Vorgänger, ein schlichter schwarzer Talar, wie ihn die Gelehrten tragen, ist sein Gewand. Deutsch redet er im Gottesdienst, er predigt von Vergebung, weil Jesus für die Sünden der Menschen gestorben ist. Und wenn er davon spricht, dass Gott nicht auf unsere Taten sieht, sondern nur ein gläubiges Herz sehen will, da hört man so manchen erleichterten Seufzer in den Kirchenbänken. Nicht die Angst treibt die Leute hierher, sondern die Hoffnung.

„Ja, was bin ich froh, dass wir erkannt haben dass wir aus Glauben vor Gott gerechtfertigt sind.”, dieser Gedanke geht ihm durch den Kopf als er sich nach dem Gottesdienst in der Sakristei umzieht. Im Eck steht noch die hölzerne Kasse mit den geschmiedeten Beschlägen – darin hatte man einst die Gelder des Ablassverkaufs gesammelt. Jetzt lagerten darin die Weinflaschen für das Abendmahl. Zuerst hatte man nach Einführung der Reformation überlegt, die Kasse einfach als normalen Spendenkasten aufzustellen. Aber dann hatten sich Pfarrer und Schultheiß geeinigt: Weg mit dieser Kiste, die uns an diese Zeit der Angst und des Ablasses erinnert. Niemand soll wieder das Gefühl bekommen, dass man sich das Himmelreich durch Geld oder gute Taten verdienen kann.

2010 – Neuer Rechtfertigungsdruck an anderer Stelle

Ich gehe nochmal 450 Jahre weiter und bin im jetzt. Die Kirche ist immer noch die gleiche; bloß nicht mehr ganz so voll wie bei ihrer Einweihung. Die Bibel ist auch noch die gleiche, nur eben neu gedruckt und sprachlich überarbeitet. Und Gott, der hier inmitten der Gemeinde gegenwärtig ist, der ist uns nach wie vor ein Geheimnis, aber immerhin der gleich wie damals.
Die Menschen … ja da hat sich viel getan. Ihnen scheinen die Gedanken der Reformation vor fast 500 Jahren in Fleisch und Blut übergegangen zu sein. Nicht ein Hauch der Angst vor einem jüngsten Gericht. Das Fegefeuer kennt man nur aus dem Geschichtsunterricht.
Dass Gott uns sowieso vergibt und uns so annimmt, wie wir sind; das scheint sich als eine Art neues Glaubensbekenntnis zu etablieren. Wenn du fragst, worum es im Glauben geht: Immer wieder kommt das Bild eines universell-freundlichen Gottes, der sowieso nichts anderes will, als uns glücklich zu machen, und dem deshalb so ziemlich alles andere egal ist.

Liebe Gemeinde,
erstaunlich, wie die Reformation diese Kirche durchdrungen hat. Dort wo einst Angst vor Gott, Verunsicherung, ob man denn Gottes Anforderungen gerecht wird, die Leute geplagt hat, da ist eine Freiheit gewachsen, die sich Luther nie hätte vorstellen können.

Denn er kannte das aus eigener Erfahrung, den Zwang alles richtig zu machen, sich den gesetzten Normen anzupassen. Die Frage, ob man denn alles recht macht, ob man den passt, – die gibts heute nicht mehr. Oder vielleicht doch?

Die bohrende Frage, ob man denn gut genug aussieht, ob man noch konkurrieren kann mit den mageren Models der Casting-Shows. Sind meine Beine lang genug, der Bauch flach genug, die Busen groß genug?
Die fragenden Augen, wenn dein Auto nicht zum Niveau der Nachbarn passt.
Die schweißnassen Hände beim kalkulieren des Hausbaus: Können wir es uns denn leisten, die Doppelgarage, den extra-Erker, die Badewanne mit Whirpool-Funktion? Aber was hilfts, die andern habens ja auch! Das muss dan halt irgendwie gehn.
Die seltsamen Anspielungen des jungen Kollegen, der so beiläufig erwähnt, dass du dies oder jenes in deinem Alter halt nicht mehr hinbekommst, da müssen halt die Jungen, die fitten Leute ran. Und du überlegst, ob du für die Firma bald nur noch als überflüssige Kostenstelle angesehen wirst.

Sünder und Gerechtfertigter im Laufe der Jahrhunderte

Liebe Gollhöfer,

Rechtfertigung des Sünders ist das Thema der Reformation.  Und plötzlich merke ich, dass diese alte Fragestellung in ganz anderen Lebensbereichen wieder neu aufgeworfen wird. Schauen wir doch mal darauf, ob die zentrale Bibelstelle zum Thema auch heute noch was dazu beitragen kann. Paulus hat es im Römerbrief eigentlich klar auf den Punkt gebracht: „Denn alle haben gesündigt und erlangen nicht die Herrlichkeit Gottes  und werden umsonst gerechtfertigt durch seine Gnade, durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist.” (Röm 3, 23-24)

Oder mit anderen Worten:

Wir alle haben Fehler,
wir alle haben Schwächen
wir alle haben unsere Macken, wir wissen, dass es „anders” besser, schöner und idealer wäre, aber wir kriegen es eben nicht hin.

Und genau denen sagt Paulus: Wenn du dich Jesus anvertraust, dann erlebst du, dass Gott dir sagt:  Es ist in Ordnung, dass nicht alles in Ordnung ist. Sünder sein und Rechtfertigung, Vergebung zu erleben. Das gehört zusammen.
Und so entfaltet diese Botschaft durch die Jahrhunderte ihre eigene Ausprägung. Sie sagt dem Gollhöfer des Mittelalters: Du bist Gottes Kind, er hat dich bei der Taufe angenommen, und der wird dich auch dann mit offenen Armen empfangen, wenn du verdreckt und lädiert wie der verlorene Sohn zurückkommst. Du brauchst keine Angst haben.
Gott sagt zu den Gollhöfern zur Zeit der Reformation: Ich freue mich, wenn ihr euch mit allen euren Fehlern ohne Furcht mir anvertraut. In meinen liebevollen Augen seid ihr gerecht, weil ihr glaubt. Und ich werde euch Kraft geben, euer Leben in Zukunft dem Glauben entsprechend zu gestalten.
Er sagt zu den Gollhöfern 2010 …  ja, was wird er denn zu uns Menschen heute sagen?

Vielleicht würde er uns erstmal wachrütteln: Hey, ihr Menschen habt da was durcheinandergebracht, ihr habt anscheinend nicht richtig zugehört! Was hat Paulus gesagt: Ihr seid Sünder und durch den Glauben Gerechtgesprochene? Beides!!
Also ihr Sünder…
Also tut nicht so, als wäre alles in bester Ordnung. Schaut nur drauf, was ihr tagtäglich so alles verbrecht! Gesteht es euch doch ein, dann kann man auch was dran ändern! Wenn ihr euch selber alles schönredet, dann ist euch nämlich nicht zu helfen.

Stop – Liebe Gemeinde, da muss ich diese Moralpredigt mal kurz unterbrechen. Denn ich glaube nicht, dass wir einfach eine Generation von starrsinnigen Übeltätern sind. Ich habe da eine andere Beobachtung: Wir Menschen haben unsere Welt in den letzten Jahrzehnten immer komplexer gemacht. Wir sind umgeben vom Abhängigkeiten und Zwängen. Da ist man oft nicht mehr Herr aller seiner Entscheidungen, sondern muss reagieren, muss handeln, auch wenns einem oft anders lieber wäre. Ich würde meinen Hof, oder mein Pfarramt vielleicht gerne anders führen, aber es geht nicht andres, weil die Rahmenbedingungen, Gesetze, Verordnungen, wirtschaftliche Zwänge es anscheinend gar nicht anders zulassen.
Aber das machts ja nicht automatisch „gut”. Auch da sind wir Handelnde eines Systems, und machen mit. Wer weiß, was in 40 Jahren unsere Enkel uns vorwerfen …
Ihr seid Sünder … das diagnostiziert Paulus erstaunlich nüchtern . Aber er sagt ja noch mehr: Und durch den Glauben gerechtgesprochen.
Und da steckt viel mehr drin als nur „Gott vergibt dir”. Er sagt ja: Weil ich dich mit der Liebe Jesu anschaue, sage ich dir: Dein Leben ist in Ordnung! Und das könnte Folgen haben:

Du brauchst kein Haus, das genauso schön und groß ist, wie das deiner Nachbarn. Du bist auch so etwas besonderes.
Dein Selbstbewusstsein soll davon geprägt sein, dass du von Gott und Menschen geliebt wirst, da musst du dann nichts mit einem obercoolen Auto oder einem I-Phone aufmotzen.
Du bist eine Erfindung Gottes, und er hat dir eine Persönlichkeit geschenkt, die unabhängig vom Übergewicht, Haarausfall, Cellulite oder Pickeln ist.
Du mit deinen Stärken, deinen Begabungen, du sollst wissen, dass du mehr Wert bist, als je ein Arbeitgeber bezahlen könnte.
– Auch das ist Rechtfertigung, die uns befreien kann von manchen Zwängen, die wir uns selber auferlegen.

Liebe Gemeinde,
bald sind es 500 Jahre, dass Martin Luther seine bahnbrechenden Thesen in Umlauf gebracht hat. Fast hätte man denken können, das ist alles so lang her … das ist entweder veraltet oder eh schon längst kapiert.
Nein. Wir brauchen es immer wieder neu. Dass wir uns an die beiden Hälften unseres Menschseins erinnern:

Wir sind nicht perfekt, und das sollten wir uns eingestehen, und sehen, was wir besser machen können. Und: Wir sind von Gott trotz unserer Fehler und Schwächen angenommen. Und wenn der Herr der Welt mir sagt: Du bist in Ordnung. Dann kann ich auf die Urteile von Castingshows und sonstigen Besserwissern getrost pfeifen.

Amen

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